Lebensbedrohlich erkrankte und sterbende Menschen würdig begleiten: Dieser Auf- gabe hat sich die ambulante Hospizhilfe Karben seit gut fünf Jahren verschrieben. Nun gewähren die ehrenamtlichen Helfer einen Einblick hinter die Kulissen ihrer Arbeit.
Karben. Werner Müller* steht vor dem Badezimmerspiegel und zitiert Goethe. Insgesamt 63 Gedichte kann der 89-Jährige auswendig. Immer einen witzigen Vers parat zu haben, dafür ist er bei seiner Familie und seinen Freunden stets bekannt gewesen. Und auch jetzt noch, im hohen Alter, beim morgendlichen Waschen, sitzen die Zeilen wie eh und je.
Niemand ahnt, dass Herr Müller im Dezember 2012 zusammenbrechen und mit der Diagnose Demenz ins Krankenhaus eingeliefert werden wird, bevor er bald darauf, im Februar 2013, stirbt. In dieser schweren Zeit nach dem Befund ist es vor allem die Hospizhilfe Karben, die Herrn Müller und seiner Familie beisteht und ihnen dabei hilft, mit dem Schmerz und der Erkenntnis umzugehen, dass man den Tod oft nicht begreifen, sondern nur akzeptieren kann.
„Unser Ziel ist es, den Angehörigen die Angst zu nehmen und einfach für sie da zu sein“, erklärte Hildegard Biermann, Gründungsmitglied der Hospizhilfe, im Gespräch mit Regine Müller* (87), der Ehefrau von Werner Müller. „Ich erinnere mich noch genau, wie mein Mann morgens vor dem Spiegel stand und seine Gedichte übte. Ich habe seinen Tod immer noch nicht richtig verarbeitet“, räumt sie ein und lässt noch einmal die vergangene Zeit Revue passieren.
1922 wird ihr Mann geboren, während des Kriegs ist er stationiert in Russland, kommt schließlich in amerikanische Gefangenschaft. Bald darauf wird er wieder freigelassen. Danach folgen 66 Jahre glückliche Ehe mit Regine und ihren beiden Töchtern. Als technischer Ingenieur arbeitet Herr Müller in der Nähe von Leverkusen. Die Familie wohnt in Marl, im Rheinland. Schließlich zieht eine Tochter nach Tübingen, die andere nach Petterweil, wohin ihr ihre Eltern im Jahr 2011 folgen.
Thema ist ein Tabu
Dort wohnen sie im Seniorenzentrum Johanniter-Stift in Klein-Karben, als im Dezember 2012 die Diagnose kommt. Hildegard Biermann, in privatem Kontakt mit der Tochter aus Petterweil, bietet ihre Hilfe an. „Es ging mir zu der Zeit gesundheitlich auch nicht sehr gut, deswegen waren wir sehr froh über die Unterstützung von Frau Biermann“, sagt Regine Müller. Sie betrachtet ein Foto, auf dem sie und ihr Mann frisch nach ihrem Umzug nach Karben zu sehen sind.
Als Werner Müller Anfang 2013 aus der Palliativstation im Friedberger Krankenhaus zurück in das Johanniter-Stift kommt, kümmert sich die Hospiz-Helferin mehrmals in der Woche um ihn und entlastet so die Familie. „Als Hospiz-Helfer übernehmen wir alle Aufgaben außer den pflegerischen Tätigkeiten, wie zum Beispiel Spritzen geben. Neben langen Gesprächen haben wir viel gelesen, gemeinsam geweint und gelacht, und sogar gesungen“, erklärt die gelernte Physiotherapeutin. „Mein Mann war jahrelang im Gesangsverein“, erinnert sich Regine Müller.
Zeitlebens sei er agil gewesen. Bis zum Ende hätten sie täglich Spaziergänge in Karben und Umgebung gemacht. Doch irgendwann ging es nicht mehr, er fing an, Nahrung abzulehnen. „Er wollte, dass wir ihn loslassen, das war für uns sehr schwer“, sagt die Witwe.
„Seit wir uns vor fünf Jahren gegründet haben, zielt unser Engagement in der Sterbebegleitung vor allem darauf ab, den Betroffenen und Angehörigen dabei zu helfen, zu akzeptieren statt zu verdrängen“, betont Ursula Jacobsen, Koordinatorin der Hospizhilfe. „Leider ist das Thema Tod und Sterbebegleitung in unserer Gesellschaft oft noch ein Tabu, deswegen setzen wir uns für mehr Aufmerksamkeit ein“, so die Hospiz-Helferin.
Als im November 2010 seine Frau mit Verdacht auf Schlaganfall in die Spezialklinik nach Bad Salzhausen eingeliefert wird, verändert sich auch für Elektrotechniker Karsten Baumgart* (58) und seine Tochter (18) aus Petterweil mit einem Schlag ihre Lebenssituation. Tod und Krankheit, das ist bis dahin nie ein großes Thema für sie gewesen. Doch dann stellt sich der Verdacht des Hausarztes auf Schlaganfall als Irrtum heraus. „Nach drei Wochen wussten wir, dass es keine Heilung mehr gibt“, erinnert sich Herr Baumgart an die Diagnose: Gehirntumor.
Durch Zufall hört die Familie von der Karbener Hospizhilfe. Nach einem Gespräch mit Koordinatorin Ursula Jacobsen kümmert sich fortan Betreuerin Dorothe Schulz um Melanie Baumgart* und ihre Angehörigen.
Halt und Hoffnung
„Durch meine berufliche Belastung war uns Frau Schulz eine große Hilfe. Sie ging mit meiner Frau oft im Kurpark Bad Homburg spazieren und stand uns bei, als die Zusammenbrüche meiner Frau nach den Bestrahlungen häufiger wurden“, erklärt der Familienvater. Alle vier Wochen muss der Rettungswagen zu ihnen nach Hause kommen, bis Melanie Baumgart im evangelischen Hospiz in Frankfurt am Börneplatz aufgenommen wird. Im September des Jahres stirbt Melanie Baumgart.
„Meine Frau hatte keine Patientenverfügung“, betont Karsten Baumgart. „Heute besitze ich eine. Man kann aus dem Haus gehen, und es passiert etwas, und man ist nicht mehr entscheidungsfähig. Man muss die Kraft finden, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.“
In einer Zeit, in der sie oft nicht gewusst hätten, wie es weitergehen soll, hätten ihnen die guten Seelen der Hospizhilfe Halt und Hoffnung gegeben. „Man kann Alt werden und Sterben eben nicht lernen“, sagt Regine Müller. „Deswegen ist es schön, wenn man eine solche Unterstützung erfährt.“
* Namen aller Betroffenen
von der Redaktion geändert