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Wenn der Geist geht – Demenz: Besondere Belastung und besondere menschliche Nähe

Schwere Demenz nicht nur als ungeheure Belastung erleben, sondern auch als Chance begreifen? Dass dies beileibe keine zynische Frage ist, wurde bei einer Veranstaltung der Bürgeraktive im vollbesetzten Bistro im Haus der Begegnung deutlich.

Bad Vilbel. Das Wort Demenz geht auf zwei Wörter aus dem Lateinischen zurück: Verstand und abnehmend. Demenz wird oft übersetzt mit „Der Geist geht weg“. Es kann nicht nur zu Gedächtnisstörungen und Orientierungsverlust kommen, sondern im Extremfall auch zu Persönlichkeitsveränderungen. Fortschreitende Demenz stellt nicht nur das Leben der Kranken, sondern auch das ihrer Angehörigen und Freunde auf den Kopf: Selbständige werden zu Abhängigen, Gebende zu Nehmenden.

Angehörige finden sich oft in einem 24-Stunden-Alltag wieder, der ganz eigene Belastungen und Anforderungen mit sich bringt – bis an die persönlichen Grenzen. Gleichzeitig kann der Umgang mit Demenzkranken aber auch eine vorher ungeahnte Nähe zu dieser Person mit sich bringen. Die Krankheit selbst und der veränderte Alltag zwingen alle Beteiligten förmlich zu einer sehr krassen Form der Entschleunigung und zu einem generellen Umdenken – eine Herausforderung, die auch neue Wege und Ansichten eröffnet. So die Erfahrung von Stefanie Drozdzynski, die im Haus der Begegnung über diese Einsichten berichtete.

Stefanie Drozdzynski ist Diplom-Pädagogin mit zehnjähriger Praxis als Krankenschwester. Sie ist Dozentin in der Altenpflegeausbildung in Darmstadt und leitet verschiedene Gruppen, in denen an Demenz erkrankte Menschen zusammentreffen. Vor dem Vortrag hatten die Besucher einen Kurzfilm von Jenna Gesse gesehen, in dem diese berührende Eindrücke vom Leben mit ihrer dementen Großmutter aufzeigt und ihre eigenen Reflexionen dazu offenlegt.

Drozdzynskis Erläuterungen liefen darauf hinaus, dass die Person in den Mittelpunkt gestellt wird und nicht die Krankheit. Schließlich verschwindet die Person nicht mit der Krankheit. Demenz ist beileibe nicht nur ein medizinisches, sondern in erster Linie ein soziales Schicksal und eine kulturelle Herausforderung. Wenn das Umfeld mitspielt und die Betroffenen stützt, dann bleibt auch bei Dementen viel Lebensqualität erhalten. Vorraussetzung ist, dass sich die Angehörigen über ihre Rolle und ihre eigenen Belastungsgrenzen Klarheit verschaffen. Dazu gehört zudem das Wissen, dass das veränderte Verhalten der Kranken nicht auf Bosheit oder Bockigkeit beruht, sondern schlicht auf Unfähigkeit, weil das Gehirn keine Signale mehr aussendet. Demenzkranke verlieren immer mehr die Fähigkeiten, ihr Verhalten zu beeinflussen. Der Zugang zu ihnen ist zwar nicht mehr über den Verstand und die Vernunft möglich, aber durch Gesten, Blicke, Rituale und gemeinsames Tun, wie Stefanie Drozdzynski an praktischen Beispielen erläuterte.

Beim alltäglichen Umgang werden die Kranken weniger durch Inhalte, als durch Melodie und Klangfärbung der Stimme sowie begleitende Körpersprache erreicht. Langsame Aussprache und direkter Blickkontakt sowie unterstützende Gesten helfen. Demente Menschen können nämlich noch nachahmen, auch wenn sie selbst keine eigenständigen Handlungen mehr durchführen können, weil ihr Gehirn mit Dingen keine passenden Handlungsabläufe mehr verbindet. Vorwürfe und Ungeduld verschlimmern hier die Situation. Hilfreich ist es dagegen auf Ängste einzugehen und überschaubare Tagesstrukturen zu schaffen. „Annehmen, Achten, Aushalten“ sind nach Aussage der Referentin die drei Worte, die die Anforderungen an die Angehörigen auf den Punkt bringen. Außer Frage steht natürlich, dass sich dies alles leichter sagen und einsehen lässt, als es dann täglich umzusetzen ist.

Die Krankheit Demenz, bei der die Alzheimer-Patienten mit rund 60 Prozent den größten Anteil bilden, entwickelt sich meistens von einem zunächst leichten Stadium über ein mittleres bis zu einem schwerem und hin zur Pflegebedürftigkeit. Aber bei allen Stadien können sie weiterhin auf Außenreize reagieren. Auch schwer Demenzkranke verfügen insbesondere im emotionalen Bereich über Fähigkeiten, die meist bis zum Lebensende bleiben.

Stefanie Drozdzynski beendete ihren Vortrag mit einem Zitat des Philosophen Meister Eckhart (Ende des 13. Jahrhunderts): „Die Liebe beginnt da, wo das Denken aufhört.“

Stichwort: Café Kleeblatt

Das Bad Vilbeler Café Kleeblatt ist eine von der Arbeiterwohlfahrt, der Nachbarschaftshilfe, der Caritas, der Diakonie und dem städtischen Seniorenbüro getragene Gemeinschaft, die Betreuungsangebote für Demenzkranke und Angehörige ins Leben gerufen hat. Professionelle Fachkräfte und ehrenamtliche Mitarbeiter ermöglichen es ihren Gästen, wie die Demenzkranken genannt werden, bei wöchentlichen Treffen auch außerhalb der Familien Gemeinsamkeit zu erleben.

Ein weiteres Angebot des Café Kleeblatt besteht in einer monatlichen Gesprächsrunde, in der sich pflegende Angehörige unter fachlicher Leitung austauschen können. Wer sich für die Arbeit des Café Kleeblatt interessiert – sei es als Betroffener oder als ehrenamtliche Mitarbeiter – kann sich an Caritas, Diakonie, Nachbarschaftshilfe oder das Seniorenbüro der Stadt wenden. (hir)

Kleeblatt sucht Musiker und andere ehrenamtliche Mitarbeiter

Für die Treffen von an Demenz erkrankten Menschen sucht die Trägergemeinschaft „Café Kleeblatt“ noch ehrenamtliche Mitarbeiter – vor allem auch einen Musiker, der ein Instrument spielt. Die Erinnerung an die Vergangenheit ist bei Demenzkranken meist lange stark. Lieder und Melodien, die in früher Kindheit gelernt wurden, sind auch heute noch erinnerbar, während gegenwärtige Erlebnisse nicht mehr im Bewusstsein verhaftet sind. Die Treffen finden zwar wöchentlich statt, aber es ist auch eine gelegentliche Mitarbeit möglich, betonte Hans-Ulrich Callies als Sprecher des Trägervereins. Anfragen richten Interessenten bitte entweder an die Nachbarschaftshilfe, Telefon (06101) 604890, an die Caritas Sozialstation, Telefon 64967, oder an die Diakoniestation, Telefon 85053.   (hir)