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Warum bleibt Jesus nicht in der Provinz? – Wort zum Sonntag

Warum eigentlich ist Jesus nach Jerusalem gegangen? Er hat doch geahnt, was auf ihn zukommen würde. Seinen Jüngern hat er mitgeteilt, dass er mit dem schlimmsten rechnet. Jerusalem war für ihn die Höhle des Löwen. Dort hatten seine Gegner Heimrecht. Warum nur hat er es dennoch gewagt? Er hätte doch gut in Galiläa bleiben können. Da draußen auf dem Land, wo Jerusalem weit weg und der Zugriff der Mächtigen begrenzt war. Er hätte doch der Star in der Provinz bleiben können. Die Menschen haben ihn geliebt. Fast drei Jahre lang ist er umher gewandert. Er hat gepredigt und geheilt – in Galiläa, Samarien, Judäa. Bis an die Mittelmeerküste ist er gegangen, dorthin wo die verhassten Heiden wohnten. Aber Jerusalem sparte er aus.

Obwohl Jerusalem der Mittelpunkt des damaligen gesellschaftlichen und religiösen Lebens war. Er machte einen großen Bogen um diese Stadt. Erst ganz zum Schluss machte er sich auf den Weg nach Jerusalem. Hatte er die Hoffnung, die Priester und Schriftgelehrten zu überzeugen? Denkbar wäre das ja. Aber wenn man sich anschaut, wie Jesus sich in Jerusalem verhält, ist das wohl nicht der Fall. Kaum angekommen, vertreibt er mit Gewalt die Händler aus dem Tempel. Dann lehrt er im Tempel und vergleicht die mächtigen Schriftgelehrten mit hinterlistigen Pächtern, die durch einen Mord an Eigentum zu kommen glauben. Dann spricht er von der bevorstehenden Zerstörung des Tempels, wohl wissend, dass der Tempel das Herzstück des jüdischen Glaubens war. Redet so jemand, der die Elite des Landes gewinnen will? Und schließlich die Verhöre vor dem Hohen Rat und vor Pilatus. Das wäre doch seine Chance gewesen! Aber Jesus macht kaum den Mund auf. Er verteidigt sich nicht, er argumentiert nicht. Er lässt es geschehen, weil er weiß, dass die Entscheidung bereits gefällt ist.

Ich glaube nicht, dass Jesus damit gerechnet hat, die Mächtigen in Jerusalem zu überzeugen. Ich glaube, er wollte mit seinem Kommen den Kontrast deutlich machen zwischen der verbeamteten Frömmigkeit der Mächtigen, die die einfachen Leute unterwirft, und der radikalen Liebe Gottes, die alle Schuld, alle Grenzen und Vorurteile überwindet. Wäre er in der Provinz geblieben, vielleicht hätte man denken können, dass sich beides irgendwie verträgt. Aber in Jerusalem konnte keiner mehr diese Illusion haben. Jesus war dort, um den wahren Charakter der Mächtigen zu enthüllen und ihnen die Maske vom Gesicht zu reißen. Und das geschieht, als die Mächtigen einen Mann wie einen Verbrecher hinrichten lassen, der nichts weiter getan hat, als die radikale Liebe Gottes zu allen Menschen zu predigen und zu leben. Darin zeigt sich der wahre Charakter eines menschenfeindlichen religiösen Systems, das die Menschen knechtet, anstatt sie zu befreien – ein System, wie es übrigens im Kontext jeder Religion entstehen kann. Im Kolosserbrief wird es später einmal so formuliert: „Er hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und hat einen Triumph aus ihnen gemacht in Christus.“ Es ist ein Triumph, der Jesus alles gekostet hat. Ein Triumph, der erst im Nachhinein als ein solcher deutlich wurde. Es ist der Triumph einer Liebe, die auch dann an den Menschen festhält, wo sie sich ihr entziehen und bekämpfen wollen.

Pfarrer Jens Martin Sautter

ev. Christuskirchengemeinde Bad Vilbel